Inklusion in Deutschland – die Designerin Cornelia Pock im Interview

Deutschland bewegt sich in Bezug auf ein inklusives Arbeits- und Ausbildungsleben europaweit im Mittelfeld. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Giuseppe Troiano von der Design Redaktion der TH Nürnberg sprach mit Cornelia Pock über das Thema Inklusion in Deutschland und woran es ihrer Meinung nach an der Umsetzung hapert. – Ein Interview von Giuseppe Troiano

Wie kam es zu dem Thema Inklusion?

Das Thema Inklusion ist eine Art Fazit, wenn man sich mit dem Thema Behinderung beschäftigt. Das hatte ich getan. Sowohl aus persönlichen Gründen als auch wegen meines allgemein hohen Interesses an Menschen und gesellschaftlichen Themen. Umso mehr ich über dieses Thema erfahren habe, umso mehr wurde mir klar, mit was für einer gigantischen Parallelwelt ich es zu tun habe. Klingt hart, aber ist in den meisten Fällen leider wahr. Das hat in mir vieles ausgelöst: Fassungslosigkeit, Neugier, Ehrgeiz.   

Was ist das Kernproblem?  

Ich würde nicht sagen, dass es das eine Kernproblem gibt, das wäre zu einfach. Aber hier ein paar der zentralen Probleme:

In einer Leistungsgesellschaft, die den Wert eines Menschen anhand seiner objektiven Leistung und seines objektiven Erfolgs misst, werden leistungsschwächere Menschen immer an den Rand gedrängt und für weniger wertvoll befunden. Die Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weniger leistungsfähig sind, werden dadurch in eine Ecke gedrängt, in der ihnen weniger zusteht, da man davon ausgeht, dass sie weniger zum Gemeinwohl beitragen als andere. Zusätzlich werden sie häufig auch weniger gefördert, da der subjektive Erfolg kein Geld bringt.

Gleichzeitig ist unsere Leistungsgesellschaft auch der Apparat, der das Geld einbringt, um Menschen mit Behinderung unterstützen zu können – das darf man nicht vergessen. Wirtschaftlich schwächere Länder können noch so motiviert sein, was Inklusion angeht: Sie können es schlichtweg nicht finanzieren.

Ein weiteres sehr relevantes Problem ist der Kreislauf der Separierung, der eine innere Haltung der Hemmung und Distanz begünstigt. Dadurch, dass ich niemanden in meinem Umfeld mit Behinderung habe, finde ich es deutlich befremdlicher, jemanden mit Behinderung zu treffen. Das führt dazu, dass ich mich eher von diesem distanzieren möchte. Das muss kein böser Wille sein. Viele haben Angst, etwas falsch zu machen oder wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen.

Woran leiden die Betroffenen, die du befragt hast, im Alltag?

Häufig an fehlenden Möglichkeiten. Alles muss immer perfekt organisiert sein, damit die Dinge funktionieren. An Spontanität ist häufig nicht zu denken. Dafür ist allein der öffentliche Raum nicht barrierefrei genug. Simple Beispiele wären nicht funktionierende Rolltreppen zu Bahngleisen. Die meisten Rollstuhlfahrer müssen sich im Vorhinein ausführlich erkundigen, wo Rolltreppen und Aufzüge nicht funktionieren. Zusätzlich muss eine Assistenz bei der DB gebucht werden, der den Einstieg in den Zug ermöglicht, wenn dieser nicht ebenerdig ist.    

Wie bist du methodisch an das Thema herangegangen?

Bei meiner Recherche habe ich zunächst verschiedene Formen von Behinderungen auf Basis ihrer konkreten persönlichen Symptome unterschieden. Von da aus ging es dann in alle Richtungen weiter:

– die jeweilige Wechselwirkung von „anders sein“ und Gesellschaft,

– das jeweilige Selbstempfinden,

– unterschiedliche Ursachen.

Diese verschiedenen Stränge führen dann bei den allgemeineren Themen wie „Inklusion, Bildung, Kindheit“ etc. wieder zusammen.  

Welche Ursachen von fehlender Inklusion konntest du ausmachen?

Eine wichtige Ursache ist definitiv der mangelnde Wille der Politik und der Bevölkerung. Es wird nicht gesehen, dass Inklusion etwas ist, dass wir für uns alle umsetzen sollten und nicht eine „gute Tat“ für eine Randgruppe.

Dann haben wir das Problem, dass es aktuell an jeder Ecke brennt. Andere Themen werden als wichtiger erachtet. Das ist allerdings nur eine aktuelle Ursache. Vor 20 Jahren konnte das noch nicht als Ausrede vorgebracht werden.

Zum Teil ist Inklusion auch aufseiten der Menschen mit Behinderung einfach nicht gewünscht. Nämlich dann, wenn diese einen Safe Space dringend brauchen und diesen auch nicht verlassen wollen.

Was heißt Behinderung überhaupt und welche Formen von Behinderung hast du beleuchtet?  

Per definitionem bedeutet Behinderung, dass eine Person körperlich oder psychisch so stark vom altersüblichen Zustand abweicht, dass sie dadurch nicht oder nur sehr eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.

Folgende Formen habe ich beleuchtet:

Körperbehinderungen, Sinnesbehinderungen, Lernbehinderungen, geistige Behinderungen, psychische Behinderungen und Grenzfälle mit Fokus auf Autismus.

Für dich fängt eine fehlende Integration schon bei der Sprache an. Was müsste sich ändern?  

Es fängt mit einem feinen sprachlichen Unterschied an. Zunächst muss nämlich klargestellt werden, dass Inklusion und Integration etwas völlig Unterschiedliches sind. Ich möchte das gerne an einem Beispiel erklären, das mit Sprache zu tun hat:

Wenn eine blinde Person an unserer Hochschule studiert und von einer Assistenz begleitet wird, die ihr alle projizierten und ausgeteilten Texte vorliest, dann wäre sie in unser Hochschulleben integriert worden. Inkludiert wäre sie aber, wenn sie die Texte so zur Verfügung gestellt bekommen würde, dass sie diese selbst aufnehmen kann. Also entweder in Brailleschrift oder digital und barrierefrei, sodass sie sich diese vom Computer vorlesen lassen kann. Das ist ein sehr vereinfachtes Beispiel, das aber deutlich macht, worum es geht.

Grundsätzlich kann ich zum Thema Sprache aber sagen, dass diese unglaublich wichtig ist. Und sehr viel Macht hat, Menschen an einem selbstbestimmten Leben zu hindern. Meiner Meinung nach müsste es alle relevanten Texte – behördlich, juristisch, etc. – auch in vereinfachter Sprache für Menschen mit geistiger Behinderung geben. Ebenfalls digital und barrierefrei, für Legastheniker und Blinde. Auch die Gebärdensprache ist nicht zu vergessen. Entgegen der Annahme vieler ist diese nämlich auch in Schrift nicht identisch zur Lautsprache.

Weshalb war es dir wichtig, das Thema fotografisch zu beleuchten?  

Es braucht Bilder, um den Leser dazu zu bringen, die Texte nicht distanziert herunterzulesen. Ich möchte, dass man auch mal innehält und die Dinge auf sich wirken lässt. Zusätzlich helfen die Bilder dabei, den Inhalt auf einer anderen Ebene zu verstehen. Sie erleichtern den Zugang.

Deshalb auch die Buchform?  

Ja. Weil ich ein Medium wollte, für das man sich Zeit nimmt, das man aber jederzeit auch weglegen kann, wenn man die aufgenommenen Informationen erst einmal verarbeiten will.

Viele denken beim Stichwort Inklusion sofort an Schule. Warum gibt es noch kein inklusives Schulsystem?  

 Das deutsche Schulsystem ist im weltweiten Vergleich auffallend separierend. Das heißt, der Sprung zu einem inklusiven Schulsystem wäre sowohl in den Köpfen als auch organisatorisch besonders groß. Es ist aber natürlich keine Begründung dafür, warum wir an diesem Punkt noch nicht sind – es ist ja einiges an Zeit vergangen. Bei dieser Frage gibt es nicht „die eine Wahrheit“, dafür ist das Thema zu komplex. In meinen Recherchen ist die zutreffendste Antwort aber folgende: Ein inklusives Schulsystem ist unglaublich herausfordernd. Wirklich scheitern tut es aber am mangelnden Willen. Undurchdachte Konzepte wurden auf unausgebildete Lehrkräfte losgelassen. Inklusive Zusammenarbeit und Zusammenleben scheiterten. Aus dieser völlig vorhersehbaren Entwicklung schloss man, dass es wohl einfach nicht möglich sei. Damit hat man es sich sehr leicht gemacht. Es gibt allerdings wenige Schulen, wo Kompetenz und Engagement im richtigen Ausmaß da sind und wo Inklusion bereits jetzt gelebt wird. Wie genau das funktioniert, würde hier den Rahmen sprengen, aber ich kann dazu beispielsweise das Interview mit der Pädagogin Prof. Dr. Jutta Schöler Gemeinsamer Unterricht als Organisationsform auf YouTube empfehlen.

In Italien gibt es seit den späten 80ern ein inklusives Schulsystem. Leider müssen sich dort den Kindern mit Lernbeeinträchtigungen am Tempo der „schnelleren“ anpassen. Müssten Inhalte nicht so aufbereitet werden, dass alle Kinder gleichzeitig daran arbeiten, aber immer an ihrem jeweiligen Lerntempo angepasst? Leiden die Kinder in einem inklusiven System also am zu starken Leistungsdruck?    

Wenn das so ist, kann von einem inklusiven Schulsystem schlichtweg nicht die Rede sein. Wie du richtig erkannt hast, geht es darum, dass jedes Kind in seinem eigenen Tempo passende Inhalte lernt. Der Kern des jeweiligen Themas, an dem gemeinsam gearbeitet wird, ist es, der die Kinder zu einer Klasse und Gemeinschaft macht – nicht das gleiche Leistungsniveau. Wenn das nicht gegeben ist, leiden immer irgendwelche Kinder darunter. Ob der Unterricht dann zu schnell, zu langsam, zu unter- oder überfordernd ist, ist völlig egal. Ein eindimensionaler Unterricht kann gar nicht allen Kindern gerecht werden. Das tut er auch in unserem jetzigen Schulsystem nicht.

Wie sieht es mit Inklusion in der Arbeitswelt aus?  

Hier muss man zwischen zwei Herausforderungen unterscheiden bzw. folgendes bedenken: die allermeisten Menschen mit Behinderung haben diese in Form von körperlichen oder psychischen Einschränkungen. Das bedeutet, dass man einen Großteil dieser Menschen auf dem Arbeitsmarkt inkludieren könnte, indem Arbeitsräumlichkeiten barrierefrei (z. B. rollstuhlgerecht), bzw. Arbeitsformen flexibler (z. B. Homeoffice) wären. Schwieriger ist es bei Menschen mit geistiger Behinderung. Hier müssten passende Tätigkeiten und Arbeitsumfelder geschaffen werden. Das ist nicht einfach und auch vonseiten der Menschen mit Behinderung nicht immer erwünscht. Grundsätzlich haben viele Arbeitgeber Angst davor, einen Menschen mit Schwerbehinderung anzustellen, da sie viel zu schlecht über ihre Pflichten und Rechte als Arbeitgeber informiert sind. Dieser Kreislauf ist beim Thema Inklusion allgemein zu beobachten: Es wird sich nicht getraut, etwas zur Inklusion beizutragen, weil Inklusion so wenig vorhanden ist, sodass man nicht weiß, was dieser Schritt überhaupt bedeuten würde. 

In welchen anderen gesellschaftlichen Bereichen fehlt es auch an Inklusion und woran scheitert es?  

Oft werden die „banaleren“ Bereiche als weniger wichtig erachtet, dabei sind sie unglaublich relevant! Würde eine Inklusion zwischenmenschlich und im Bereich Freizeit gelebt werden, wäre die Hürde zu den organisatorisch schwierigeren Bereichen sehr viel geringer. Jegliche Freizeitangebote müssten also inklusiver werden.


Interview: Giuseppe Troiano
Fotos: Giuseppe Troiano

9. Januar 2023